Prof. Dr. Thorsten Kingreen, von der Fakultät für Rechtswissenschaft Regensburg hat am 02. September 2020 Stellung genommen zum Entwurf eines Gesetzes zur Weitergeltung von Rechtsverordnungen und Anordnungen aus der epidemischen Lage von nationaler Tragweite angesichts der Covid-19-Pandemie. Am 9. September wurde die Stellungnahme dem Bundestag zur öffentlichen Anhörung im Ausschuss für Gesundheit vorgelegt.
Dabei hat Prof. Dr. Kingreen massive verfassungsrechtliche Bedenken vorgetragen.
Diese ergeben sich einerseits daraus, dass eine „epidemische Lage nationaler Tragweite“ aktuell de facto nicht vorliegt. So lange diese aber nicht aufgehoben wird, löst sie, wie deutlich zu sehen ist, ein verfassungsrechtlich hochgradig problematisches Ausnahmerecht aus.
Es würde auf diese Weise der „fatale Anschein eines verfassungsrechtlich nicht vorgesehenen Ausnahmezustands“ gesetzt: Die Ermächtigung des Bundesministers für Gesundheit in Rechtsverordnungen „Ausnahmen“ und „Abweichungen“ von nicht näher eingegrenzten Parlamentsgesetzen vorzusehen, sei nämlich verfassungswidrig.
Wenngleich gem. Art. 80 Abs. 1 S. 1 GG grundsätzlich Gesetze erlassen werden dürfen, die den Erlass von Rechtsverordnungen vorsehen, muss jedoch im Gesetz selbst Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung bestimmt werden.
In Art. 80 GG reagierten die Verfassungsväter auf die „leidvollen Erfahrungen deutscher Verfassungsentwicklung“. Diese Norm fungiert daher als „bereichsspezifische Konkretisierung des Rechtsstaats-, Gewaltenteilungs- und Demokratieprinzips“ und „sollte „der ‚Ermächtigungsgesetzgebung‘ einen Riegel vorschieben und eine geräuschlose Verlagerung der Rechtsetzungsmacht auf die Exekutive sowie die damit verbundene Veränderung des Verfassungssystems verhindern.“
Dies bestätigt auch das Bundesverfassungsgericht. Das Parlament darf sich nicht „durch eine Blankoermächtigung an die Exekutive seiner Verantwortung für die Gesetzgebung entledigen und damit selbst entmachten.“
Da die Ermächtigungsgrundlagen in § 5 Abs. 2 S. 1 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) ohne jede Differenzierung Ausnahmen und Abweichungen von allen Normen der dort bezeichneten Gesundheitsgesetze erlauben, kann sie geradezu als eine Blankovollmacht bezeichnet werden, die weitaus mehr als 1.000 Vorschriften umfasst.
Diese Verlagerung (grundrechts-)wesentlicher Entscheidungsbefugnisse auf eine gesetzlich nicht angeleitete Exekutive wird nicht nur von den Wissenschaftlichen Diensten des Deutschen Bundestages, sondern fast einhellig im rechtswissenschaftlichen Schrifttum für verfassungswidrig gehalten.
Obwohl dieser Vorgang in der Öffentlichkeit weitaus weniger wahrgenommen wurde, als die erfolgten Grundrechtseingriffe, verursacht er mit der Verschiebung der Achsen der horizontalen Gewaltenbalance erhebliche Beeinträchtigungen im Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip.
Erneuerung des Wahlgesetzes
Zudem besteht freilich die Gefahr, dass dieser Zustand des Regierens mittels Rechtverordnungen sich verstetigt. Hinweise dazu ergeben sich bereits aus einem Gesetzentwurf der Regierungskoalition, in dem der Erlass eines neuen § 52 Abs. 4 BWahlG vorgesehen ist, der das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat ermächtigen soll, im Falle einer Naturkatastrophe oder eines ähnlichen Ereignisses höherer Gewalt, durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates von den Bestimmungen über die Aufstellung von Wahlbewerbern abweichende Regelungen zu treffen, um die Benennung von Wahlbewerbern ohne Versammlungen zu ermöglichen.
Kingreen hierzu: „Man scheint sich allmählich an die Gesetzgebung durch ministerielle Notverordnungen zu gewöhnen. Während man bislang noch sagen konnte, es gehe doch nur um Detailfragen des Infektionsschutzrechts (und auch das stimmt nicht, es geht auch um sensible Fragen wie eine Deregulierung des Arzneimittelzulassungsrechts), geht es beim Wahlrecht dann um das demokratische Eingemachte.“
Auch Kingreen rechnet damit, dass die „Epidemie“ uns noch über die Bundestagswahl 2021 hinaus beschäftigen wird. Man muss daher auch davon ausgehen, dass der Termin 31.03.2021, an dem alle Not-Rechtsverordnungen außer Kraft treten sollen, weiter hinausgeschoben wird.
„Damit droht die Gefahr einer dauerhaften Verstetigung eines verfassungsrechtlich nicht zulässigen Ausnahmezustands über die bisherige Legislaturperiode hinaus.“