Ein Artikel von Prof. Dr. Heribert Prantl, Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung in der SZ vom 02.05.2020. Er wird hier, bis zur Zustimmung des Autors, in Auszügen wiedergegeben.
Prantl lehrt als Honorarprofessor für Rechtswissenschaft an der Universität Bielefeld. Er hat Recht, Geschichte und Philosophie studiert, parallel dazu eine journalistische Ausbildung gemacht und im Urheber- und Wettbewerbsrecht promoviert. Bevor er 1988 als rechtspolitischer Redakteur zur SZ ging, war er sechs Jahren lang erst Richter, dann Staatsanwalt in Bayern.
„Man wünscht sich ein Gutachten aus Karlsruhe: Wo sind die Grenzen für Grundrechtseingriffe, die selbst in größter Not nicht überschritten werden dürfen.“
„Es wird neue Viren geben. Die werden auch gefährlich sein, womöglich noch gefährlicher als Corona. Wir werden auch in Zukunft Pandemien erleben. Wie wird der Staat dann reagieren? Wie bei Corona? Wird es dann zackig heißen: Maske auf, Klappe halten! Wird dann wieder die Bewegungsfreiheit eingeschränkt, wieder die Versammlungsfreiheit entzogen? Ein grundsätzliches Verbot der Versammlungsfreiheit, Versammlungen zum Gebet inbegriffen, hatte es bisher noch nie gegeben. Wird ein solches Verbot künftig Usus? Aus den Grundrechten würden dann virtuelle Grundrechte, sie stünden unter Pandemievorbehalt.“
„Werden künftig bei jeder Pandemie Grenzen, Kitas und Schulen geschlossen? Müssen die Menschen mit immer neuen Ausgangsverboten und Kontaktsperren leben – die von ängstlichen Parlamenten wenig kontrolliert werden und von einer womöglich künftig kritischeren Öffentlichkeit nicht hinterfragt werden können, weil praktisch jedes Grundrecht davon abhängt, dass man das Haus verlassen kann? Symbole für eine solche Infektions-Demokratie wären Ziehharmonika und Bandoneon: Da wird der Balg immer wieder zusammengequetscht und dann wieder auseinandergezogen. Bei den Musikinstrumenten kommen so harmonische Töne zustande. In einer Demokratie eher nicht.“ (…)
„Es gab wohl noch nie in so kurzer Zeit so viele im Einzelfall unverhältnismäßige Grundrechtseingriffe. Verordnungen, aus der Not des Augenblicks geboren, haben Gesetze nicht mehr vollzogen, sondern ersetzt. Das Versammlungsverbot wurde „ohne Sinn und Verstand exekutiert“; so analysiert das Oliver Lepsius, Professor für Öffentliches Recht in Münster. Er konstatierte eine „regelrechte Lust“ der Exekutive, ihre Macht zu demonstrieren. Es gibt aber auch Lust, sich dieser Macht zu unterwerfen und deren Anforderungen noch zu überbieten, weil man hofft, so die Gefahr zu bannen. Im Kleinen, unter Nachbarn, blüht das Denunziantentum.“
„Wer kontrolliert die Exekutive? Die gesetzgebende Gewalt, die Legislative, hat es bisher kaum getan. Die rechtsprechende Gewalt, die Justiz, hat soeben mit der Kontrolle begonnen. Gerichte haben Versammlungsverbote aufgehoben, die selbst dann verhängt worden waren, wenn die Veranstalter sich zu rigorosen Vorsichtsmaßnahmen verpflichtet hatten.“ (…) „Die Prüfung geht hin und her und dauert lange, zu lange, um auf den politischen Gang der Dinge Einfluss zu nehmen. Die Drangsalierung der Grundrechte hält nämlich an: Der Versuch, eine (ganz winzige!) Demonstration anzumelden, gerät zur bürokratischen Zumutung, die mit zwei Dutzend Seiten Auflagen bombardiert wird.“
„Können Betroffene über ihren Schutz nicht selber entscheiden?“
„Man wünscht sich Leitlinien vom Bundesverfassungsgericht: Wo läuft die Linie, die in Zeiten der Not nicht überschritten werden darf? Zu einer großen verfassungsrechtlichen Überprüfung des Ausnahmezustandes wird es nicht oder viel zu spät und nur für einen kleinen Teil der Maßnahmen kommen. Das ist bitter, schade und schädlich, weil so die Lehren für künftige Pandemien vage bleiben. Es geht um Fundamentalfragen für Demokratie und Rechtsstaat. Man wünscht sich eine Kompetenz zurück, die das Verfassungsgericht bis 1956 hatte: Es konnte, auf Antrag des Bundespräsidenten oder auf gemeinsamen Antrag von Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung ein Rechtsgutachten erstatten. Zweimal wurde davon Gebrauch gemacht, dann der einschlägige Paragraf abgeschafft. Die eigentliche Aufgabe der Justiz sei, so hieß es, die Entscheidung von Streitfällen, nicht die Erstellung von Gutachten. Eigentlich. Aber wir leben in uneigentlichen Zeiten.“ (…)
„Bei der Wiederaufnahme der Gottesdienste setzt sich das fort: Weihwasserbecken leeren! Anwesenheit eintragen! Hände desinfizieren! Mundschutz anlegen! Auf markierte Plätze setzen! Gesangbuch verboten! Singen verboten! So steht das in kirchlichen Schutzkonzepten und Teilnahmebedingungen – in einer Mischung von Furcht, Liebedienerei und Beflissenheit. Ist so viel Reglementierung gebotene Verantwortung? Den Menschen, die zur Risikogruppe gehören, wird ausdrücklich geraten, zu Hause zu bleiben. Das klingt fürsorglich. Natürlich ist es nicht so, dass der liebe Gott die schon beschützen wird, die genügend Gottvertrauen haben. Frömmigkeit ist kein Immunitätsverstärker. Aber: Können Betroffene über ihren Schutz nicht selber entscheiden? Reicht es nicht, wenn sie tun, was sie längst tun: Hände waschen und Abstand halten? Man darf ruhig auf die kluge Freiheit der Christenmenschen und auf ihren Verstand setzen.
Das gilt für den Staat auch. Er darf nach Wochen massivster Einschränkungen auf die Vernunft der Bürgerinnen und Bürger setzen. Der demokratische Staat ist kein paternalistisches Projekt. Er lebt von der Mündigkeit seiner Bürger. Er erträgt vielleicht kurzzeitig einen Mundschutz, aber nicht die Entmündigung der Gesellschaft.“